LESEPROBE: WOHNEN

- 9 - Der Ackerbau dehnt sich später zu den Flussoasen der großen Ströme Asiens und Afrikas aus. Damit im Zusammenhang steht ein komplexeres Sozialsystem, die Entwicklung von Hierarchien, von Privateigentum und Aufschwung von Wissenschaftsdisziplinen wie Mathematik, Astronomie, Landvermessung oder Wasserwirtschaft. Und mit alldem kommt es zu neuen Bau- und Wohnformen, zu gewaltigen Tempelanlagen, Palästen und mehrstöckigen Häusern. Am Nil, am Indus oder am Gelben Fluss in China entstehen ebenso wie in Mesopotamien zwischen Euphrat und Tigris erste Hochkulturen. Viehhaltung und Hirtennomadismus entstanden etwa zur gleichen Zeit wie der Ackerbau, und zwar dort, wo Klima- oder Bodenbeschaffenheit diesen unmöglich macht: in den Grassteppen und Savannen Afrikas, Asiens und Europas. Um 9500 v. Chr. kommt es in Anatolien zu einer Zwischenkaltzeit, und die großen Gazellenherden, die Hauptnahrungsquelle der Wildbeuter, verschwinden. Es wird knapp mit der Nahrungsgrundlage, und man geht notgedrungen zur Vorratshaltung der Wildtiere über, die man hinter Busch- und Dornenhecken einpfercht. In der Folge werden aus Jägern Hirten. Am Anfang dieses Prozesses hüten sie Schafherden, dann folgen Rinder und Ziegen. Den zu Viehzüchtern gewordenen ehemaligen Wildbeutern gelingt es im Laufe eines Jahrtausende währenden Prozesses, auch Esel und Pferde, Dromedare, Kamele und Rentiere zu domestizieren, in Südamerika auch – sehr viel später – Lamas und Meerschweinchen. Eine Folge der Wildtierdomestizierung ist der „Pastoralismus“, das Wanderhirtentum, und mit ihm der Nomadismus. Eine nomadische Lebensweise gab es zwar auch schon vorher, aber so lange, wie Großsäugetiere in der Nähe menschlicher Wohnorte grasten, waren weite Wanderungen nicht nötig. Jetzt aber folgen die Hirten mit ihren Tieren einem jahres- und vegetationszeitlich bestimmten Rhythmus. Und mit ihnen der Hund als Wache und zum Schutz der Herde. Nomaden bauen keine festen Behausungen. Sie brauchen schnell auf- und abbaubare Behausungen. Als ideal erwies sich dabei das Zelt, im Prinzip eine Kon- struktion aus Ästen oder Baumstämmen, die mit Tierhäuten, Binsen- oder Filzmatten bedeckt wurden. Im Zentrum der Zelte stand und steht teilweise bis heute die Feuerstelle, um die sich seit jeher zahllosen Mythen ranken. Inwieweit es in den steinzeitlichen, bronzezeitlichen und früheisenzeitlichen Zelten anders als bei den neuzeitlichen Hirtennomaden außer der als heilig geltenden Feuerstelle auch schon eine funktionale Trennung zwischen den Bereichen Wohnen, Schlafen und Vorratshaltung gab, ist unsicher. Bis heute oder zumindest bis vor wenigen Jahrzehnten blieben oder bleiben Zelte bei Hirtennomaden in Gebrauch. Beduinen in Arabien lebten in ihnen, und heute noch laden schwerreiche arabische Herrscher bevorzugte Gäste in riesige Prunkzelte zu Gastmahlen und Falkenjagden ein, auch wenn sie schon lange nicht mehr mit Schafen und Ziegen durch die Wüste ziehen und Dromedare nur als Statussymbole für Rennen halten. Auch in vielen Ländern Afrikas, in Somalia und Mauretanien, in Algerien, Nigeria, Kenya, im Tschad und in Tansania, leben Wanderhirten noch in sogenannten Schwarzzelten aus Ziegenhaar, die oft beträchtliche Ausmaße annehmen können und wenn auch nicht im europäischen Sinne bequem sind, aber doch minimalen Komfort bieten, was Wohnen, Kochen, Schlafen und Schutz vor den Sonnenstrahlen angeht. Foto: Terje Ansgar Eriksen, Pixabay Bild: Heutige Jurte in Lyngenfjord, Norwegen (NOR) Die Tschuktschen, Rentierhirten in Nordostsibirien und Fischer und Jäger von Meeressäugern, hatten (oder haben?) ihre Jarangas, große, mehrere Meter hohe kuppelförmige oder spitz zulaufende Zelte auf kreisförmigem Umriss für ganze Familien. Die wenigen noch als Hirtennomaden lebenden zentralasiatischen Völker der Kasachen, Mongolen und Kirgisen wohnen während ihrer jahreszeitlich bestimmten Wanderungen auch heute noch in Jurten, einer Art weiterentwickelter Zelte mit Scherengittern als Seitenwänden und spitzem Dach. Ein letztes Beispiel noch für temporäre Behausungen sollen die Iglus der Inuit in Kanada und Grönland sein. Diese runden, meist bienenkorbförmigen Schneehütten waren und werden gelegentlich heute noch bei Jagdzügen schnell aufgebaut und bieten Unterkunft für eine Nacht. Größere Iglus von mehreren Meter Umfang und Höhe dienten bis vor etwa 100 Jahren ganzen Sippen einen Winter lang als regelrechte Wohnung.

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