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Der Fotograf

Liebe Leserinnen und Leser,

als Wahlnorderneyer weiß ich die Vorzüge meines Wohnortes ganz besonders

zu schätzen. Obwohl ich inzwischen jede Straße, jedes Haus, jede Ecke und

unzählig viele Lieblingsplätze in der Natur in- und auswendig kenne, sehe ich

diese Orte jeden Tag neu. Das Leben auf der Insel hat meine Sinne geschärft.

Der aufziehende Regen oder Sturm deutet sich schon vorher in den Wolken

an, Licht und Temperatur ändern sich – und mit ihnen die Stimmung. Noch

heute vergleiche ich manchmal das Lebensgefühl in meiner alten Heimat mit

meinem Lebensgefühl hier auf Norderney. Dann bin ich froh, meine Kamera

einpacken und bei jeder Gelegenheit losziehen zu können. Oft bin ich am

frühen Morgen unterwegs oder abends zur blauen Stunde. Dann zeigen sich

die spektakulärsten Wolkenbilder, die Konturen an Land sind klar und die

Schatten tief. Ich muss gar nicht durch das Objektiv schauen, um zu wissen

„Das ist ein Bild“.

Die Natur malt die schönsten Bilder, heißt es oft. Das stimmt für mich noch

immer. Richtig ist aber auch: Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Mein

Blick auf die Stadt Norderney hat sich in den Jahren, die ich hier lebe, verän-

dert. Anfangs störten mich die Bausünden der Sechziger- und Siebzigerjahre.

Auch einige Straßenzüge wirkten auf mich irgendwie steif und ungelenkig.

Inzwischen schätze ich gerade diese kleinen Brüche, die Gegensätze, die Rei-

bung, diese Lücken, die Platz für eine ganz andere Schönheit schaffen – eine

die nicht glatt und langweilig ist, sondern mitunter schroff und ungeschlif-

fen daher kommt, die unverfälscht und ehrlich ist. Wenn sich diese Art des

Sehens gelegentlich in meinen Bildern mitteilt, bin ich zufrieden.

Ihr Joachim Trettin