Die Legende von der Christrose und allerlei Wissenswertes über eine Blume im Winter - page 11

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dass in den Recherchen zum Nils Holgersson der Anstoß für die Legende
zu finden ist. Als historisch kann schließlich auch der düstere Wald des
Hochlandes von Göinge – damals die Grenzregion zwischen Dänemark
und Schweden – als Rückzugsort von Räubern gelten.
Das Geschehen, das sich in der Erzählung entfaltet, weist alle Zutaten
einer Legende aus: eine begrenzte Anzahl von Figuren, die sich in from-
me und böse unterteilen lassen, und ein wundersames Ereignis, eine
Durchbrechung der Naturgesetze, die von der Allmacht Gottes zeugt.
Doch sind die Verhältnisse in Selma Lagerlöfs Geschichten nie so
eindeutig, wie sie zunächst erscheinen: Der Räubervater, der zu Beginn
geradezu den Inbegriff des Bösen verkörpert, sehnt sich in Wahrheit nach
einem ehrbaren Leben unter sittsamen Menschen, während seine Frau
sich durchaus empfänglich zeigt für das Schöne und Lichte. Die Person,
die sich schuldig macht, gehört hingegen zum frommen Kreis des Klos-
ters. Dieser Laienbruder ist es, der im Zentrum des Geschehens steht. So
berührend die ruhige Glaubensfestigkeit des Abtes Johannes (der im Ori-
ginal übrigens schlicht Hans heißt) auch auf den Leser wirken mag, der
eigentliche „Held“ der Geschichte ist doch der Laienbruder, der durch
seinen Unglauben und seinen Argwohn zu verantworten hat, dass der
Wald von Göinge niemals mehr in der Weihnachtsnacht zum Paradies
wird, und der am Ende als Eremit im Wald Buße tut.
Die Legende, die die Herkunft der Christrose erklären soll, und dabei
auf verbreitete Vorstellungen vom wunderbaren Wachstum der Pflanzen
in der Christnacht zurückgreift, ist also wie so viele der Erzählungen
Selma Lagerlöfs zugleich eine Geschichte von Schuld und Sühne. Viel-
leicht geht es zu weit, in Selmas Vater, der mit seiner Trunksucht den
Verlust des Kindheitsparadieses verursacht hat, das ferne Urbild des Lai-
enbruders sehen zu wollen, der seinerseits durch seine Glaubensschwä-
che das weihnachtliche Paradies von Göinge zum Verschwinden bringt.
Jedenfalls erweist sich, dass die Legende von der Christrose, so einfach
und scheinbar einfältig sie sich auf den ersten Blick darstellt, doch ver-
schiedene Sinnebenen aufweist und damit auch verschiedene Interpre-
tationsansätze nahelegt – ohne dass der fromme und innige Ton, der
den ästhetischen Reiz dieser kleinen Erzählung ausmacht, darunter lei-
den würde. Was Selma Lagerlöf zu einer der wichtigsten und zu Recht
meistgelesenen Autorinnen Schwedens macht, ist eben dieses Vermögen,
mit den einfachsten und klarsten erzählerischen Mitteln immer wieder
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