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man sich darüber im Klaren, dass es sich nicht nur bei ihren Romanen

um hochkomplexe Sprachkunstwerke handelt, sondern dass auch ihre

Verarbeitungen sagenhafter Stoffe von höchster künstlerischer Raffines-

se zeugen. In

Nils Holgerssons wunderbarer Reise durch Schweden

, 1907,

ein Jahr vor der

Christrose

, erschienen, wird dies besonders deutlich. Es

ist faszinierend, wie die Autorin mit den teils aus der Volksüberliefe-

rung geschöpften, häufig aber auch selbst erfundenen Geschichten die

einzelnen Landschaften Schwedens veranschaulicht und dabei eben kein

realitätsfernes Idyll entwirft, sondern ein Land im Spannungsfeld zwi-

schen Tradition und Moderne poetisch beschwört. Es ist das Schicksal

Nils Holgerssons, eher als Zeichentrickfigur oder Merchandising-Artikel

populär zu sein denn als Romanheld, doch wer sich in das fast 700 Seiten

dicke Buch vertieft, das erst seit 2014 in einer vollständigen Übersetzung

vorliegt, der wird rasch erkennen, wie Selma Lagerlöf über den Auftrag,

ein landeskundliches Schulbuch zu verfassen, hinausgewachsen ist und

einen für Kinder nur bedingt geeigneten modernen Roman geschrieben

hat, der die Welt der Fabel, des Märchens und der Sage auf geradezu

avantgardistische Weise mit der Moderne konfrontiert.

Während die Versuche, einige der Stoffe ihrer Bücher auf die Büh-

ne zu bringen, auf keine Gegenliebe stießen und bald wieder aufgege-

ben wurden, sollte sich ein anderes, damals noch junges Massenmedi-

um mit großem Erfolg der Geschichten Selma Lagerlöfs annehmen:

Die Stummfilme

Herr Arnes Schatz

von Mauritz Stiller (1919) und

Der

Fuhrmann des Todes

von Victor Sjöström (1921), an denen die Autorin

mitgearbeitet hatte und die beide auf meisterhaften Novellen basieren,

zählen bis heute aufgrund ihrer Bildkraft und ihrer damals revolutionä-

ren Schnitttechnik zu den Meilensteinen der Filmgeschichte. Zwischen

Selma und dem dandyhaften Filmkünstler Stiller kam es freilich bald zu

Spannungen; seine Verfilmung von

Gösta Berling

(1924), die den Welt-

ruhm von Greta Garbo begründen sollte, kam gegen den Willen der

Autorin zustande. Auch später wurden ihre Werke immer wieder auf die

Leinwand gebracht. Nur Astrid Lindgrens Bücher wurden noch häufiger

verfilmt als diejenigen Selma Lagerlöfs, was die anhaltende Attraktivität

und Aktualität ihrer Geschichten nicht weniger illustriert als deren inter-

nationale Auflagenzahlen.

Wie schon erwähnt, zeigte sich Selma Lagerlöf bereits in ihrem Debüt

als Meisterin der großen epischen Form, des Romans, doch bewährt sich