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dass in den Recherchen zum Nils Holgersson der Anstoß für die Legende

zu finden ist. Als historisch kann schließlich auch der düstere Wald des

Hochlandes von Göinge – damals die Grenzregion zwischen Dänemark

und Schweden – als Rückzugsort von Räubern gelten.

Das Geschehen, das sich in der Erzählung entfaltet, weist alle Zutaten

einer Legende aus: eine begrenzte Anzahl von Figuren, die sich in from-

me und böse unterteilen lassen, und ein wundersames Ereignis, eine

Durchbrechung der Naturgesetze, die von der Allmacht Gottes zeugt.

Doch sind die Verhältnisse in Selma Lagerlöfs Geschichten nie so

eindeutig, wie sie zunächst erscheinen: Der Räubervater, der zu Beginn

geradezu den Inbegriff des Bösen verkörpert, sehnt sich in Wahrheit nach

einem ehrbaren Leben unter sittsamen Menschen, während seine Frau

sich durchaus empfänglich zeigt für das Schöne und Lichte. Die Person,

die sich schuldig macht, gehört hingegen zum frommen Kreis des Klos-

ters. Dieser Laienbruder ist es, der im Zentrum des Geschehens steht. So

berührend die ruhige Glaubensfestigkeit des Abtes Johannes (der im Ori-

ginal übrigens schlicht Hans heißt) auch auf den Leser wirken mag, der

eigentliche „Held“ der Geschichte ist doch der Laienbruder, der durch

seinen Unglauben und seinen Argwohn zu verantworten hat, dass der

Wald von Göinge niemals mehr in der Weihnachtsnacht zum Paradies

wird, und der am Ende als Eremit im Wald Buße tut.

Die Legende, die die Herkunft der Christrose erklären soll, und dabei

auf verbreitete Vorstellungen vom wunderbaren Wachstum der Pflanzen

in der Christnacht zurückgreift, ist also wie so viele der Erzählungen

Selma Lagerlöfs zugleich eine Geschichte von Schuld und Sühne. Viel-

leicht geht es zu weit, in Selmas Vater, der mit seiner Trunksucht den

Verlust des Kindheitsparadieses verursacht hat, das ferne Urbild des Lai-

enbruders sehen zu wollen, der seinerseits durch seine Glaubensschwä-

che das weihnachtliche Paradies von Göinge zum Verschwinden bringt.

Jedenfalls erweist sich, dass die Legende von der Christrose, so einfach

und scheinbar einfältig sie sich auf den ersten Blick darstellt, doch ver-

schiedene Sinnebenen aufweist und damit auch verschiedene Interpre-

tationsansätze nahelegt – ohne dass der fromme und innige Ton, der

den ästhetischen Reiz dieser kleinen Erzählung ausmacht, darunter lei-

den würde. Was Selma Lagerlöf zu einer der wichtigsten und zu Recht

meistgelesenen Autorinnen Schwedens macht, ist eben dieses Vermögen,

mit den einfachsten und klarsten erzählerischen Mitteln immer wieder